Nach langen Verhandlungen haben es die Unionsparteien und die SPD geschafft, sich auf einen Koalitionsvertrag zu verständigen. Wenn der Titel des Vertrages, der die Zukunft Deutschlands gestalten soll, ernst genommen wird, wäre allerdings ein breiter öffentlicher Diskurs vonnöten gewesen und nicht Geheimverhandlungen in Parteizentralen. So hat der Vertrag von Anfang an den Anschein erweckt, ein Projekt der führenden politischen Eliten darzustellen. Entsprechend ist der Inhalt des Vertrages ausgefallen.
Festzuhalten ist, dass sich das Projekt in der Tradi-tion der Agenda 2010 sieht. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, der schrittweise Abbau der sozialen Sicherungssysteme sowie die Politik der Entfesselung der Finanzmärkte werden nicht als wesentliche Punkte begriffen, die die Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 und alle Folgeprobleme mit verursacht haben. Im Fokus der Koalitionäre steht nur die Wettbe-werbsfähigkeit der Bundesrepublik, in vier Jahren soll sie noch besser entwickelt sein als heute schon. Es ist mit Kopfschütteln zu registrieren, dass die Vertragspartner offensichtlich kein Bewusstsein davon haben, dass durch eine solche Politik weder die nati-onalen noch die internationalen ökonomischen und so-zialen Ungleichgewichte beseitigt werden können. Es ist keine Rede davon, die Ungleichgewichte durch so-lidarische Aktionen zu beheben, sei es durch ein ge-rechteres Steuersystem oder im EU-Bereich durch die Etablierung einer Ausgleichsunion.
Das neoliberale Gedankengut der zukünftigen Koalitio-näre wird ebenso deutlich, wenn es um das Credo der ausgeglichenen Staatshaushalte geht. Nicht etwa die Einkommens- und Vermögensverhältnisse und die Dere-gulierung der Finanzmärkte sind für das ökonomische Desaster verantwortlich sondern die Fehlentwicklung bei den Staatshaushalten. Deswegen muss für Koalitionäre die Sanierung der Staatshaushalte zum obersten Grundsatz werden. Es ist schon erstaunlich, wie Ursache und Wirkung im Koalitionsvertrag verdreht werden. Auf dieser Basis müssen die vielen Einzelposten des Koalitionsvertrages bestenfalls unzureichend häufig aber kontraproduktiv ausfallen.
1. Wenn keine Steuererhöhungen, wie zum Beispiel die Erhöhung des Spitzensteuersatzes oder die Wiederein-führung der Vermögenssteuer, stattfinden dürfen, kann sich auch an der ungerechten Einkommens- und Vermö-gensverteilung in der Bundesrepublik nichts ändern. Das Problem wurde konsequenterweise kein Thema des Koalitionsvertrages.
2. Die Frage ist, wo die anvisierten Sechs Mrd. Euro für die Kommunen herkommen sollen, wenn auf der anderen Seite die Gesamtverschuldung des Staates von 81% auf 70% gesenkt werden soll? Eine rabiate Kürzungspo-litik der Koalition könnte das Ergebnis sein. Außerdem sind die veranschlagten sechs Mrd. Euro ein schlechter Witz, wenn bezahlbares Wohnen, billigere Energie und hohe Verkehrsinvestitionen ermöglicht werden sollen.
3. Wie sollen Langzeitarbeitslose gefördert und Al-tersarmut verhindert werden? Bis zum Ende der Legis-laturperiode sieht der Paritätische Wohlfahrtsverband hier einen zusätzlichen Bedarf von 24,5 Mrd. Euro. Darauf gibt der Koalitionsvertrag keine Antwort.
4. Der vermeintliche Erfolgsposten des Vertrages soll der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro sein. Dieser soll aber erst am 1.1.2015 kommen und nicht für alle Arbeitnehmer gelten. Geltende Tarifverträge, die unter dem Mindestlohn liegen, haben bis Ende 2016 Vorrang. Eine Erhöhung des Mindestlohnes soll erst ab 2018 erfolgen.
5. Bei der Eindämmung der Werkverträge setzt die Große Koalition auf die Tarifpartner ebenso wie bei der Bekämpfung prekärer Beschäftigung insgesamt. Der Ge-setzgeber entzieht sich der Verantwortung.
6. Die Mütterrente bringt vielen Frauen eine leichte Verbesserung ihrer Rente. Ein Beitrag zum konsequenten Kampf gegen Altersarmut ist das nicht. An vielen anderen Punkten des Koalitionsvertrages ließe sich aufzeigen, dass sie unzureichend bis kont-raproduktiv ausgefallen sind. Insgesamt muss festgestellt werden, dass der Koalitionsvertrag nur in Nu-ancen von dem Geist der Agenda 2010 abweicht. Kurz-fristig mögen sich die Koalitionäre Ruhe an ihrer Basis verschaffen, aber von einer wirklichen Gestaltung der Zukunft Deutschlands kann keine Rede sein. Und auch für die Zukunft Europas gilt vor allem die Maxime „Weiter so.“
Kommentar von Dr. Peter Behnen
GEW Baden-Württemberg