Nach Auffassung der beiden Berliner Autoren Matthias Dantlgruber und Ulrich Hoffmann in der Zeitschrift „Stimme der Familie“ (4/19) zum Thema „Kinderrechte ins Grundgesetz“ sollte man die grundrechtliche Architektur nicht für ein Lippenbekenntnis, das nichts kostet, aber eben umsonst ist, gefährden.
Der bekannte Artikel 6 (2) des Grundgesetzes lautet: „Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht der Eltern sind die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“.
Leider sind damit Bildung, Erziehung und emotionale Pflege von Kindern und präventiver Kinderschutz als „zuvörderst obliegende Pflicht der Eltern“ kaum differenziert und verantwortlich beschrieben.
Die Autoren gehen bei dieser klar ablehnenden Argumentation etwas abgehoben wahrscheinlich von einkommensstarken, bildungsnahen Familien aus, deren Kinder ziemlich wahrscheinlich von „Kinderrechten im Grundgesetz“ nicht allzu viel zusätzliche Teilhabe an Bildungs- Sport- und Reisemöglichkeiten eröffnet würden und die seltener an Vernachlässigung oder gar Misshandlungen zu leiden haben.
Mit Sicherheit werden die Kinder der beiden Autoren auch nicht regelmäßig wie Kinder von Familien, die auf Hartz-IV-Tranferleistungen angewiesen sind, als Opfer, Parasiten, Sozialschmarotzer oder einfach „Hartzer“ beschimpft und sie müssen wohl nicht unter beispiellosen anhaltenden Verachtungskampagnen leiden, die armen Eltern und ihnen selbst gelten. Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist seit den 1980er Jahren leider zunehmend geprägt vom Menschenbild des Neoliberalismus*.
Unter dem Druck der Finanzmärkte, multinationaler Banken und Konzernen werden Bürger*innen unseres Landes, auch Kinder und Jugendliche, beurteilt und gemessen an ihrer ökonomischen Verwertbarkeit, die bei armen Kindern kaum als hoch eingeschätzt werden kann.
Selbst hart-gesottenen Neoliberalen leuchtet es aber ein, dass ein Kleinkind als Hartz-IV-Transfer-Empfänger ja nicht erwerbslos sein kann und daher seine Finanzierung über ALG II eigentlich unverständlich bleibt.
Kinder brauchen eben unter anderem eine eigene Grundsicherung .
Es stimmt leider gar nicht, dass unser Grundgesetz in seiner derzeitigen Form alle Familien und ihre Kinder unter besonderen Schutz staatlicher Ordnung stellt und ihnen einen spezifischen einklagbaren Schutz gegen die aktuelle massive Ungleichbehandlung ermöglicht.
Was mir als älterem Kinderarzt besonders am Herzen liegt: Kranke Kinder sollten besondere Rechte haben – Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, auch wenn einige neoliberale Ökonomen offensichtlich davon überzeugt sind. Kinderklinken haben sehr viel höhere Vorhaltekosten als Erwachsenen-Kliniken, die in den Fallpauschale (DRG’S) nicht abgebildet werden, insbesondere stehen deutlich zu wenig Kinderkrankenschwestern zu Verfügung, die zudem überlastet und unterbezahlt sind.
Anhaltende Unterbesetzung kann für die Versorgung der jungen Patienten gravierende Folgen haben. Bundesweit klagen Kliniken über Probleme, geeignetes Pflegepersonal für Kinderintensivstationen zu finden; schwerkranke Kinder sind durch den Pflegenotstand gefährdet.
Mittlerweile herrscht vielerorts eine Situation, in der selbst ursprünglich hoch motivierte Fachkräfte ihren Beruf verlassen – was den Mangel zusätzlich verschärft.
Die alltägliche Arbeitsverdichtung ist enorm, die Beschäftigten geraten in Gewissenskonflikte, weil sie ihre hohen professionelle Ansprüche nicht mehr umsetzen können. Die medizinische Behandlung von Kindern benötigt viel Geduld, Zeit und Geld.
Fast alle Kinderkliniken und pädiatrische Abteilungen befinden sich derzeit in einer finanziellen Abwärtsspirale oder drohender Insolvenz.
Ein Sortieren kranker Kinder nach „sich lohnenden“ und eben „nicht lohnenden“ Diagnosen bzw. Krankheiten“ geht gar nicht.
Kinderkliniken sollten statt dessen mit einem festen für die Behandlung aller kleinen Patienten ausreichenden Budget ausgestattet werden.
Die Abrechnung nach Fallpauschalen haben die Prioritäten in der Krankenhaus-Medizin in ganz ungünstiger Weise verschoben:
Nicht mehr die Belegdauer an Tagen (die man auch kritisch sehen kann), sondern die einzelnen ärztlichen Eingriffe werden bezahlt – ohne Berücksichtigung der Pflege, insbesondere der besonders personal-aufwendigen pädiatrischen Intensivpflege.
Auch wenn diese mit den Pflegestärkungsgesetzen sich vielleicht geringfügig verbessern könnte.
Eine Klinik für kranke Kinder ist jedenfalls keine Fabrik!
Es sind auch die folgenden beiden Themen, die es als besonders dringlich erscheinen lassen, dass „Kinderrechte“ zeitnah ins Grundgesetz eingefügt werden müssen:
In Freiburg etwa verlassen jedes Jahr 140 Jugendliche – 6% eines Jahrgangs – die Haupt- oder Werkreal-Schulen ohne bestandene Abschlussprüfung.
Die Chancen einer Berufsausbildung gestalten sich für diese Jugendlichen ebenso frustrierend wie meist erfolglos.
Es ist anzunehmen, dass in Deutschland über eine Million junger Menschen zwischen 20 und 29 Jahren keine abgeschlossene Berufsausbildung erreichen konnte.
Ihre Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt sind in einer überwiegend wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft ganz gering.
Gerade in unserem Land sind Bildung, Berufsausbildung und Lebensperspektive von Kindern und Jugendlichen ganz überwiegend abhängig von der soziale Herkunft, von Beruf und Einkommen der Eltern.
Hier könnten „Kinderrechte im Grundgesetz“ über eine frühzeitig begonnene sozial-präventive Förderung beginnend mit FRÜHEN HILFEN mit Sicherheit eine deutliche Verbesserung bewirken.
Abschließend darf ich darauf hinweisen, dass der Hartz-IV-Kindersatz für Essen bei Kleinkindern bis zum Alter von 6 Jahren nur 2,96 Euro (vom Gesamtregelsatz von 250 Euro) täglich für Essen beträgt.
Während Lebensmittel in der Corona-Krise immer teurer und und zusätzliche Anschaffungen wie für Mundschutz-Masken erforderlich werden, lehnte die Bundesregierung trotz einer Länder-Initiative einen Hartz-IV-Coro-na-Zuschuss ab.
Mit 2,96 Euro pro Tag sollen Hartz IV-Bezieher ihre Kleinkinder gesund und vollwertig ernähren. Ein gesundes und vollwertiges Schul-Mittagsessen kostet zwischen 4 und 5 Euro pro Schulkind.
Prozesse vor dem Bundesverfassungsgericht könnten mit Blick auf die Kinderrechte im Grundgesetz wenigstens etwas mehr Gleichheit und Gerechtigkeit in unserem Land durchsetzen.
Lothar Schuchmann