Dr.Peter Behnen
Wir haben seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts eine ökonomische Situation, die aus Sicht der Marxschen Theorie als strukturelle Überakkumulation bezeichnet werden kann (1).
Diese Konstellation ist dadurch gekennzeichnet, dass bereits zuviel Kapital angehäuft wurde (Kapitalakkumulation), um im gesamtwirtschaftlichen Umfang eine weiter steigende Profitmasse realisieren zu können. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass die allgemeine Profitrate inzwischen so tief gesunken ist, dass die Neuanlage von zusätzlichem Kapital keine steigende Verwertung mehr erwarten lässt, wenn nicht an anderer Stelle schon fungierendes Kapital verdrängt wird. Die Konsequenz, die viele Kapitaleigentümer daraus ziehen, besteht darin, ihr Kapital in den Finanzsektor umzuleiten mit der Aussicht auf Spekulationsgewinn und Kurssteigerung von Wertpapieren und anderen Vermögenswerten. Wird vermehrt Kapital in den Finanzsektor umgeleitet, führt das entweder zu einem wachsenden Angebot an Kapital auf den Geldmärkten und dort zu Zinssenkungen und /oder zu vermehrten Kreditaufnahme des Staates und der privaten Haushalte. Das hat allerdings gravierende Begleiterscheinungen zur Folge. Der niedrige Zinssatz begünstigt Fehlleitungen von Kapital in überkommene Wirtschaftsbereiche, eine Überhitzung des Immobilienmarktes und die Bildung von Vermögenspreisblasen und Spekulationsblasen. Es kommt zum Kollaps dieser Märkte, Kredite werden notleidend und Banken geraten in Liquiditätsschwierigkeiten. Diese Situation hat sich bei der Finanzkrise 2007/2008 ergeben. Es folgte eine Krise im industriellen Sektor, eine Staatsschuldenkrise und eine bis heute anhaltende Eurokrise. Diese Krisenkaskade ist nicht zu überwinden, ein großer Teil der Schulden kann nicht mehr bedient werden, die Konjunktur bleibt weltweit schwach und die deflatorische Abwärtsspirale dreht sich weiter. Die Politik der Notenbanken mit zum Teil negativen Zinsen und Anleihekaufprogrammen zeigt nicht die erwartete Wirkung. Es kommt nicht zum Anschub der Konjunktur und es droht wieder eine Überhitzung des Finanzsektors. Es kann mit Fug und Recht von einer Systemkrise des Kapitalismus gesprochen werden.
Aus dieser Kurzdarstellung der kapitalistischen Systemkrise ergeben sich für die Linke verschiedene Aufgabenfelder (2).
1. Wir haben ein marodes Finanz- und Banksystem vor uns, das zu rekapitalisieren ist. Dieses System ist nicht dadurch zu sanieren, dass auf längere Sicht durch öffentliche Gelder oder staatliche und Zentralbankgarantien die wertlos gewordenen Eigentumstitel wieder ihre alten Marktpreise erhalten. Es sind deswegen zwei Schritte zu gehen. Erstens ist eine Vergesellschaftung des Finanzsektors angesagt. Der zweite Schritt besteht dann darin, die Wertverluste organisiert zu verteilen, das heißt, Preiskorrekturen bei den Wertpapieren im Bestand der Banken vorzunehmen und die Kredite abzuschreiben, die nicht mehr bedient werden können.
2. Es ist zu sehen, dass die Konjunktur simultan heftiger eingebrochen ist als in der Weltwirtschaftskrise der 30er- Jahre des letzten Jahrhunderts. Wie auch in den 30er- Jahren war das mit einer erheblichen Finanzkrise verbunden, was beim Platzen des Kreditbooms und der Entwertung von Wertpapieren die Wiederherstellung der finanziellen Liquidität zur Schlüselfrage werden lässt. Wenn es auf Dauer keine Nivellierung der großen Einkommensunterschiede und keine Bekämpfung der sozialen Spaltung gibt, wird die Reform des Finanzwesens ins Leere laufen. Die Bedingung für eine erfolgreiche Stabilisierung des Gesamtsystems ist eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Außerdem ist die Privatisierung bzw. Teilprivatisierung wichtiger Formen der sozialen Sicherheit rückgängig zu machen (Renten, Gesundheit, Bildung).
3. Es sind Schritte zu einem neuen Wirtschafts- und Finanzsystem zu gehen. Ohne eine politische Regulierung und demokratische Kontrolle laufen wir in eine neue gesellschaftliche Katastrophe hinein. Die Finanzaufsicht auf nationaler und internationaler Ebene sowie die internationale Kooperation zwischen den Regulierungsbehörden, vor allem auch in der EU, sind zu stärken und zu demokratisieren. Die Finanzstabilität, Steuergerechtigkeit und die soziale Gerechtigkeit müssen klaren Vorrang vor dem freien Kapital- Güter- und Dienstleistungsverkehr haben. Das muss in die Richtung zur Entwicklung einer sozialistischen Marktwirtschaft gehen, wobei das Kreditwesen eine wichtige Rolle spielen muss.
4. Dies Aufgabenstellungen müssen die Linken bei ihrer zukünftigen Politik im Auge haben und alles unterlassen, was den Weg in dieser Richtung verbauen würde. Wenn dieser Weg erfolgreich gegangen werden soll, ist eine grundlegende Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse zusammen mit Bündnispartnern von entscheidender Bedeutung. Die augenblickliche Situation in der Bundesrepublik und auch europaweit weist bisher noch in eine andere Richtung. Wenn davon ausgegangen wird, dass die herrschenden Eliten die grundlegenden Probleme nicht lösen werden sondern eher zu einer weiteren Unsicherheit und Destabilisierung beitragen werden, ist ein linker Minimalkonsens auf Dauer unverzichtbar. Dazu bedarf es allerdings eines guten Stückes an Bewegung in der SPD, den Grünen und auch in der Linkspartei (3). Es bedarf intensiver Diskurse über konzeptionelle Alternativen gegenüber der herrschenden Politik und gemeinsamer Aktivitäten auch mit außerparlamentarischen Kräften. Es ist auf einen Umschwung in der öffentlichen Meinung hinzuarbeiten und der Kampf gegen Ressentiments aufzunehmen. Ein glaubwürdiges Programm der gesellschaftlichen Veränderung ist vorzulegen und muss mehrheitsfähig gemacht werden. Für den Fall, dass es in Zukunft zu einer Regierungsübernahme eines linken pluralistischen Parteienbündnisses kommt, ist allerdings mit einer massiven Gegenwehr der alten gesellschaftlichen Kräfte in Wirtschaft, Politik und auch den Medien zu rechnen. Nur rasche Anfangserfolge in der Wirtschaft- und Sozialpolitik können zu fühlbaren Verbesserungen für größere Bevölkerungsteile führen und den Umschwung in der öffentlichen Meinung dauerhaft machen. Eine Abkehr von der Austeritätspolitik mit sichtbaren Erfolgen muss dann zu dem noch schwierigeren Schritt führen. Es geht darum, die weiterführenden Elemente einer sozialistischen Umgestaltung politisch mehrheitsfähig zu machen und zu halten. Der evolutionäre Übergang zu einer demokratischen marktsozialistischen Gesellschaft besteht somit aus vielen kleinen Schritten und die Verteidigung einer linken Hegemonie bleibt eine dauerhafte Aufgabe.
1) Siehe hierzu: Joachim Bischoff u. a. Vom Kapital lernen, VSA-Verlag Hamburg 2017, S.145 ff.
2) a. a. O. S.178-181
3) Siehe hierzu: Stephan Krüger, Wirtschaftspolitik und Sozialismus, VSA-Verlag Hamburg 2016, S. 517 ff.