Das Memorandum 2015.

von

Dr.Peter Behnen

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik gibt schon seit 1975 jährlich Memoranden heraus, in denen sie eine Alternative zur herrschenden Erklärung des Wirtschaftsgeschehens und zur aktuellen Wirtschaftspolitik vorstellt. In diesem Jahr ist das Memorandum mit dem Titel „ 40 Jahre für eine soziale und wirksame Wirtschaftspolitik gegen Massenarbeitslosigkeit“ überschrieben.

Knotenpunkte der Wirtschaftsentwicklung

Im ersten Teil des Memorandums 2015 zeichnet die Arbeitsgruppe die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 40 Jahre in ihren wesentlichen Knotenpunkten nach. Es wird begonnen mit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, in denen in der Bundesrepublik Vollbeschäftigung herrschte und ausländische Arbeitskräfte angeworben wurden. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz sollte die staatliche Wirtschaftspolitik auf die Ziele Vollbeschäftigung, Wachstum, Preisstabilität und außenwirtschaftliches Gleichgewicht verpflichten. Es kam zu zahlreichen Fortschritten in der Sozial, -Renten, -Arbeitsmarkt und Bildungspolitik.
Das alles fand ein Ende mit „ dem gleichzeitigen Auftreten von ökonomischer Stagnation und Inflation und schließlich 1974/75 …einer Überproduktionskrise.“ (1) Diese sogenannte Stagflation leitete einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik ein, der Wohlfahrtsstaat galt nicht länger als bestimmendes Leitbild. Die offizielle Wirtschaftspolitik führte dem Umbruch auf erhöhte Rohstoffkosten (Ölpreiskrise) und eine Überforderung des Sozialstaates zurück. Die Gegenstrategie der politischen Eliten bestand darin, eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zu betreiben, das heißt die Forderung nach Lohnverzicht, Sozialabbau und Senkung der Gewinnsteuern. Die Geldpolitik schaltete auf eine strikte Politik zur Sicherung des Geldwertes um (Monetarismus).

Ein weiterer Knotenpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik ist aus Sicht des Memorandums 2015 der Zusammenbruch der DDR. Die Einführung der Währungsunion zwischen der DDR und der Bundesrepublik führte zu einer schlagartigen Vernichtung der DDR-Industrie und zu hoher Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland. In der gleichen Zeit entwickelte sich ein Technologieboom, der von den USA ausging und auf Europa übertragen wurde. Die sogenannte „New-Economy“ führte zu einem Wachstumsschub aber auch zu einer New-Economy-Blase. Die Reaktion der herrschenden Eliten bestand in einer weiteren Verschärfung der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik mit der Agenda 2010 als vorläufigem Höhepunkt in der Bundesrepublik ab 2003. Die Stichworte dieser Politik waren: Senkung der Lohnnebenkosten, aktivierender Sozialstaat, demografischer Wandel und Riester-Rente, Minijobs, Teilzeitjobs u.s.w.

Die Erschütterung durch die Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008, ein weiterer Knotenpunkt der Wirtschaftsentwicklung, führte dazu, dass kurzzeitig die Ideologie des Neoliberalismus in Frage gestellt wurde. „ Stellvertretend für viele seien hier nur die US- amerikanischen Ökonomen Paul Krugman und Joseph E.Stiglitz. der deutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler und der französische Ökonom Thomas Piketty genannt.“ (2 ) Doch nach kurzer Zeit kehrten der ökonomische Mainstream und die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik wieder zum alten neoliberalen Denken zurück, was sie bis heute in ein Dilemma bei der Bewältigung der Finanzkrise und der aktuellen Eurokrise mit der Europäischen Zentralbank und deren Politik stürzt.

Insgesamt weist das Memorandum 2015 auf wichtige Knotenpunkte und Probleme der Wirtschaftspolitik der letzten 40 Jahre hin. Die Betrachtung wird allerdings nicht mit grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise verknüpft wird sondern mit verschiedenen Etappen der Wirtschaftspolitik. Es werden somit nicht die immanenten Widersprüche dieser Produktionsweise in den Fokus genommen. Diese tiefergehende Herangehensweise hätte den Autoren des Memorandums ermöglicht, klar zwischen der beschleunigten Akkumulation bis zu den 70er Jahren und einer strukturellen Überakkumulation in den Jahrzehnten danach zu unterscheiden und die Situation heute als Systemkrise zu benennen.
Die strukturelle Überakkumulation hat chronischen Charakter und zeigt sich u.a. darin, dass die Aufschwungsphasen kürzer und die Abschwünge tiefer und länger sind und die Erweiterungsinvestitionen im realen Sektor unzureichend für einen reibungslosen Konjunkturverlauf werden. Überschüssiges Kapital fließt verstärkt in den Finanzsektor.

Aktuelle Probleme der Wirtschafts- und Geldpolitik

Im zweiten Teil des Memorandums 2015 folgt eine genauere Betrachtung der Probleme der aktuellen Wirtschafts- und Geldpolitik. Die Europäische Zentralbank (EZB) betreibt eine expansive Geldpolitik, die einerseits die Finanzmärkte beruhigte andererseits aber nicht das Ziel erreicht, die Konjunktur im Euroraum anzukurbeln. Der Grund liegt darin, dass die niedrigen Zinsen nicht zu einer Kreditvergabe von Banken an Unternehmen und Konsumenten führen, weil von dieser Seite die Nachfrage fehlt. Lediglich der Immobilienmarkt wird angeheizt, was die Baupreise und Mieten nach oben treibt. Der Großteil der liquiden Mittel der EZB verbleibt allerdings im Finanzsystem und führt zu Kurssteigerungen bei Wertpapieren mit der Gefahr der Herausbildung einer neuen Finanzblase. Ohne eine expansive Finanzpolitik der Eurostaaten, eine Aufgabe der Sanierungspolitik und eine massive Investitionspolitik in Europa werden deflationären Tendenzen nicht bekämpft werden können. Der Schlüssel für eine andere wirtschaftliche Entwicklung liegt außerdem in einer Reregulierung der Finanzmärkte und eine soziale Verteilung von Einkommen und Vermögen. Wenn diese Problemkreise nicht angegangen werden, können auch keine Masseneinkommen entstehen, die sich in erhöhter gesellschaftlichen Nachfrage und Investitionen niederschlagen. „ Obwohl die Bundesregierung sich der Problematik mangelnder öffentlicher Investitionen bewusst ist, wird der finanzielle Spielraum nicht ausgereizt. Die Ideologie der „schwarzen Null“ ist wichtiger.“ (4)

Auch in diesem Teil des Memorandums wäre eine Einordnung der aktuellen Wirtschaftspolitik in die strukturelle Überakkumulation wichtig gewesen. In der Phase der Stagflation beließ es die offizielle Wirtschaftspolitik bei dem Versuch einer Konjunkturstabilisierung anstatt weitergehende Eingriffe in die Wirtschaftsordnung, z.B. eine Investitionssteuerung und Investitionskontrolle, vorzunehmen. Es blieb bei kurzfristigen Strohfeuereffekten ohne eine dynamische Investitionsentwicklung zu erreichen. Die Stagflation heizte demgegenüber die Finanzinvestitionen an und führte zu der Angebotspolitik und der Umverteilung von Löhnen zu den Profiten. Im Ergebnis ergab sich zwar eine Steigerung des Profits aber auch eine ausgeprägte Schwäche des Massenkonsums. Die immer fühlbarer gewordene Schwäche des privaten Konsums sollte nunmehr durch den Finanzmarkt, das heißt Konsumentenkredite, ausgeglichen werden. Das Resultat war eine Immobilienblase und die Finanzmarktkrise ab 2008. Der Zusammenbruch der Finanzmärkte konnte nur durch die ultralockere Geldpolitik der EZB verhindert werden. Die Überschuldung von Banken, Unternehmen und Privathaushalten erzwang diese Reaktion der EZB. Für die Zukunft ist mit einem Abbau der Schulden zu rechnen, was jedoch nicht durch eine Sanierungspolitik der EU-Staaten zu erreichen ist sondern nur durch eine Wachstumspolitik mit grundlegenden Eingriffen in die Wirtschaftsordnung.

Gesellschaftlicher Umbau

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert einen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft sowie ein umfassendes Investitions-Umverteilungs- und Ausgabenprogramm, um eine neue Perspektive für Europa zu erreichen. Der Umbau soll begonnen werden mit einem Investitions- und Ausgabenprogramm von zusätzlichen 100 Mrd. Euro jährlich für die Bundesrepublik. Das soll im Rahmen eines 5-jährigen Stufenplanes geschehen und die Mittel vorwiegend auf die Bereiche Bildung, Verkehr, kommunale Ausgaben, energetische Gebäudesanierung, Pflegeinfrastruktur und Arbeitsmarkt verteilt werden. Zur Finanzierung des Programms ist eine andere Steuerpolitik notwendig. Kernpunkte der Politik sind zum Beispiel eine einmalige Vermögensabgabe, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine Erbschaftssteuerreform, eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommenssteuer und die Abschaffung der Abgeltungssteuer mit der Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Auf lange Sicht will die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik ein solidarisches Europa auf der Basis einer Demokratisierung aller Lebensbereiche.

Diese Perspektive ließe sich noch schärfer herausarbeiten. Die strukturelle Überakkumulation erweist sich als Abwärtsspirale, die mittel- und längerfristig die historische Schranken der kapitalistischen Produktionsweise deutlich macht. Die Wiederherstellung eines beschleunigten Wachstums auf kapitalistischer Grundlage ist nicht durch Drehen an der Verteilungsschraube zu haben, wenn auch der Marsch in die Depression aufgehalten werden kann. Wir haben es heute allerdings mit einer prinzipiellen Alternative zu tun: Entweder es kommt zu einer Entwertung oder auch Vernichtung von Teilen des Kapitalstockes, um im Zusammenhang mit weiter veränderten Verteilungsverhältnissen zu Gunsten der Kapitalseite die Profitrate wieder zu steigern oder aber es gelingt, die Dominanz des Kapitalismus zu überwinden und die Hegemonie der Finanzmärkte zurückzudrängen. Diese Perspektive würde in Richtung einer sozialistischen Marktwirtschaft gehen. Das wäre eine „ zeitgenössische Übersetzung dessen, was seinerzeit Keynes als >ziemlich umfassende Sozialisierung der Investitionen< bezeichnet hatte, die er neben veränderten Verteilungsverhältnissen als Bedingung für ein langfristig-zukünftiges Prosperieren reicher Gemeinwesen ausgemacht hatte.“ (5) Auch im Sinne der Marxschen Theorie geht es um eine gemeinschaftliche Produktion mit gesellschaftlichen Produktivkräften im Eigentum assoziierter Produzenten. Dabei hat Marx besonders die Wichtigkeit genossenschaftlicher Eigentumsformen hervorgehoben. Diese Perspektive mit alternativen Eigentumsformen, zentraler Steuerung wichtiger gesellschaftlicher Investitionen und auch wesentlicher marktvermittelter Ressourcenverteilung muss heute deutlicher herausarbeitet werden. Worauf die Forderungen der Autoren des Memorandums 2015 hinauslaufen sind Übergangsforderungen, die zu verwirklichen von großer Wichtigkeit sind und einen Minimalkonsens der Linken darstellen können, die aber einen Übergang zur weitergehenden grundlegenden Veränderung der Wirtschaftsordnung darstellen müssen. (6)

(1) Memorandum 2015 Kurzfassung S. 2
(2) a.a.O. S.5
(3) Siehe: Stephan Krüger, Entwicklung des deutschen Kapitalismus 1950-2013, Hamburg 2015 und auch Joachim Bischoff, Bernhard Müller, Piketty kurz und kritisch, Hamburg 2015, S. 57-63
(4) Memorandum 2015 Kurzfassung S. 9
(5) Stephan Krüger a.a.O. S.115
(6) Zu weiterführenden Alternativen siehe: Stephan Krüger, Keynes und Marx, Hamburg 2012, S.356 ff.