Marx, Keynes und der heutige Finanzkapitalismus

Beitrag von Dr.Peter Behnen

Die aktuelle Diskussion in der politischen Linken über den Finanzkapitalismus ist geprägt durch die Auseinandersetzung, inwieweit die wirtschaftliche Entwicklung heute durch das Finanzkapital( Banken, Versicherungen, Hedge-Fonds, Equity-Fonds etc.) beherrscht wird oder nicht. Die These, der augenblickliche Kapitalismus sei finanzgetrieben, findet sich in verschiedenen systemkritischen Ansätzen. Dabei werden häufig nicht  der Kapitalismus an sich sondern die entfesselten und unregulierten Kapitalmärkte für die Probleme verantwortlich gemacht. Für eine realistische Positionsbestimmung und eine erfolgversprechende politische Strategie ist es deshalb von großer Wichtigkeit, sich über die theoretischen Grundlagen seiner Politik zu verständigen. Im Gegensatz zur Sichtweise bürgerlicher Positionen in Wissenschaft und Politik können es nicht historische Zufälligkeiten, menschliche Gier oder besondere gesellschaftliche Auswüchse sein, die die wirtschaftliche Entwicklung bestimmen sondern strukturelle Grundlagen dieser Wirtschaftsordnung. Umstritten innerhalb der Linken ist allerdings, von welchen strukturellen Grundlagen auszugehen ist, auf welcher theoretischen Basis also politische Lösungsvorschläge zu erarbeiten sind.

Die Grundstruktur des Finanzkapitalismus.
In der Geschichte der Arbeiterbewegung gab es eine Vielzahl von Versuchen, den Kapitalismus des 20.Jahrhunderts theoretisch zu erfassen. Die Theorie des Finanzkapitals von Rudolf Hilferding zum Beispiel ging davon aus, dass das Bankkapital mit dem Industriekapital zum Finanzkapital transformiert worden sei. Die Marxsche Theorie des Wertes wurde in eine Theorie der Macht verwandelt mit einem beschränkten bis irreführenden Erkenntnisgewinn(1).Auch Lenin und der sogenannte Marxismus-Leninmus gerieten in eine theoretische Sackgasse. Die Marxsche Theorie wurde als eine Theorie des Konkurrenzkapitalismus des 19.Jahrhunderts missverstanden und nicht als eine  allgemeine Darstellung der Grundstruktur der kapitalistischen Produktionsweise. Der Verflachungsprozess bei der Interpretation der Marxschen Theorie  wurde insbesondere durch das Projekt Klassenanalyse nachgezeichnet(2).Stephan Krüger stellt fest, dass die damals herrschende leninistische Doktrin von Imperialismus und Monopolkapitalismus völlig ungeeignet war, den Charakter der Weltwirtschaftskrise 1929-32 zu erfassen (3). Eine realistische Einschätzung der damaligen Weltwirtschaftskrise wäre auf Basis einer adäquaten Interpretation der Marxschen Theorie möglich gewesen. Auch bestimmte Grundzüge der Theorie von Keynes hätten es möglich gemacht, zu einer realistischen Einschätzung und einer erfolgversprechenden Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise 1929-32 zu kommen. Wenn heute nicht der Weg über die Marxsche Theorie beschritten wird und auch die Keynessche Theorie von Teilen der Linken beiseite geschoben wird, wird auch die Weltwirtschaftskrise 2008.ff kaum in den Verlauf der kapitalistischen Entwicklung eingeordnet werden können und wird auch eine theoretisch fundierte Einschätzung der Krise nicht gelingen.

(1) Siehe hierzu Michael Wendl, Machttheorie oder Werttheorie, Hamburg 2013.
(2) Siehe hierzu Projekt Klassenanalyse, Leninismus-eine neue Stufe des wissenschaftlichen Sozialismus? Westberlin 1972.
(3) Siehe Stephan Krüger, Politische Ökonomie des Geldes, Hamburg 2012, S.236

 

Im Gegensatz dazu sollten die Marxsche Werttheorie und bestimmte Elemente der Keynesschen Theorie die Basis der Positionsbestimmung und die Grundlage für eine erfolgversprechende politische Strategie sein. Marx hatte bereits deutlich herausgearbeitet, dass der reife Kapitalismus durch eine chronische Überakkumulation gekennzeichnet ist. Das bedeutet, dass im Kapitalismus periodisch zu viele Waren produziert werden, die bei den gegebenen Einkommensverhält-nissen nicht abgesetzt werden können. Dieser Widerspruch löst sich im Normalfall in der Krise, in der die gesellschaftliche Produktion und Ausgaben wieder aneinander angepasst werden. Im reifen Kapitalismus der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde die Überakkumulation chronisch, das heißt, dass das Produktionspotenzial und die Einkommensverteilung so weit auseinanderklafften, dass auch in Aufschwungsphasen des industriellen Zyklus ein Überfluss an Kapital existierte, der nicht per se Anlage fand. Gewaltige Kapitalmengen suchten nun neue Gewinnmöglichkeiten im Finanzsektor. Es folgte die Herausbildung eines umfangreichen Netzes von Finanzinstituten (Hedgefonds, Equity-Fonds, Pensionsfonds etc.), das Wachstum (Akkumulation) von Geldkapital verläuft seitdem dynamischer als das des realen Kapitals. Marx hatte bereits dargestellt, dass im reifen Kapitalismus alle Eigentumstitel als Finanz-produkte zirkulieren können und ihr Wertbetrag eine vom realen Kapital unabhängige Bewegung durchläuft.“ Wenn wir also eine strukturelle oder chronische Überakkumulation feststellen können, dann schlägt sich dies in einer fallenden Zinsrate nieder und liefert für den imaginären Reichtum der Eigentums-titel expansive Impulse.“(4) In diesem Sinne finden wir auch Parallelen bei J.M.Keynes. Auch er stellt im reifen Kapitalismus eine Überreichlichkeit an Kapital fest, das in

(4) Joachim Bischoff, Finanzgetriebener Kapitalismus, Zeitschrift Sozialismus 4/14, S.57

 

die Spekulation fließt. Neben der Überreichlichkeit an Kapital wird bei Keynes noch eine zweite Parallele zu Marx eröffnet. Keynes sieht auf lange Sicht die Verbrauchsnachfrage untergraben. Er begründet das mit einem psychologischen Gesetz, das dazu führe, dass mit zunehmendem Einkommen der Anteil der Verbrauchsausgaben abnehme. Bei Marx sind es die Distributionsverhältnisse als Kehrseite der Produktions-verhältnisse, die für diese Abnahme verantwortlich sind. Laut Keynes ergeben sich somit ein Gegensatz von Produktion und Konsum und eine zunehmende Schwierigkeit, das gesamtwirt-schaftliche Beschäftigungsniveau zu halten. Die Lücke zwischen Einkommen und Verbrauch müsse durch höhere Investitionsaus-gaben geschlossen werden. Dabei entsteht nach Keynes das Problem, dass langfristig auch die Veranlassung zur In-vestition eine fallende Tendenz habe. Marx und Keynes kommen, mit unterschiedlicher Begründung, zu dem Schluss, dass auf lange Sicht die Stabilität der kapitalistischen Produktions-weise durch ihre eigene Dynamik untergraben wird. Die Konse-quenz, die beide ziehen, ist allerdings gemäß ihrer theore-tischen Ableitung unterschiedlich. Während Keynes eine stärke-re staatliche Regulierung der Investitionsentwicklung befür-wortet aber an der kapitalistischen Produktionsweise festhal-ten will, sieht Marx gerade die zugrunde liegenden Produk-tionsverhältnisse als Ursache der Probleme an und fordert daher eine Aufhebung der Gesetze der privaten Kapital-verwertung. Keynes will auf lange Sicht die Akkumulation des Geldkapitals der gesellschaftlichen Kontrolle unterwerfen. Marx geht einen Schritt weiter. Da die chronische Überakkumu-lation  zu einer relativ verselbständigten Entwicklung des Finanzwesens führe, bedürfe es eines tiefen Eingriffs sowohl in das Finanzwesen als auch in die Eigentumsverhältnisse der Produktion.

Die aktuelle Entwicklung des Finanzkapitalismus und Vorschläge für einen alternativen Entwicklungsweg(5).
Die Marxsche Theorie und bestimmte Elemente der Keynesschen Theorie bieten die Grundlage, aktuelle Entwicklungen besser zu verstehen und erfolgversprechende politische Alternativen vorzuschlagen. Wir haben es in den letzten Jahrzehnten mit einer Ausweitung des Finanzsektors und einer Expansion des Kredits zu tun (Finanzialisierung). Verschiedene Formen des Kredits und des Geldwesens beherrschen das Wachstum der realen Wirtschaft. Im Zentrum stehen gewaltige Fonds, die die Geschicke von Unternehmensteilen bzw. Gesamtunternehmen je nach Renditeerwartung bestimmen. Das ändert allerdings nichts an den grundlegenden Gesetzmäßigkeiten, die die kapitalistische Produktionsweise charakterisieren. Die globale Flut an Geldkapital schlägt sich an den Kapitalmärkten nieder. Die niedrigen Zinsen, die durch die Politik der Notenbanken begünstigt werden, führen zu Vermögensblasen. Die Preise von Aktien, Immobilien etc. befinden sich auf einem historisch hohen Niveau, sodass es nun darum geht, die chronische Überakkumulation zu bekämpfen, das Platzen einer Kreditblase zu verhindern und die öffentlichen Finanzen zu konsolidieren. Die Widersprüche der chronischen Überakkumulation haben sich so zugespitzt, dass ein alternativer Entwicklungsweg  in Richtung einer gesellschaftlich gesteuerten Ökonomie gefunden werden muss.
Keynes langfristige Vision bestand darin, von einer Knapp-heitsökonomie zu einer rational organisierten Überfluss-gesellschaft zu gelangen. Er benannte dabei wichtige Anfor-derungen, die zu erfüllen sind:

(5) Siehe zu Folgendem: Joachim Bischoff, a.a.O. S.58-60
und Stephan Krüger, Keynes und Marx, Hamburg 2012, S.279ff

 

1. Eine gesellschaftliche Lenkung der Investitionen  und Regulierung des Finanzsektors (National Investment Board) und eine internationale Kontrolle des Kapitalverkehrs.
2. Eine gleichmäßigere Einkommens- und Vermögensverteilung.
3.Eine gesellschaftliche Verkürzung der Arbeitszeit.
4. Die Förderung eines sinnvollen Konsums.
5. Keine Entfesselung des internationalen Wettbewerbs und die Schaffung einer Clearing Union als Vorstufe einer Weltwirtschaftsregierung.
Viele Vorschläge von Keynes haben für einen alternativen Entwicklungsweg große Bedeutung und können auch von Anhängern der Marxschen Theorie voll unterschrieben werden. Marx selbst hat wie kein anderer Ökonom auf die Bedeutung der rationalen Entwicklung des fixen Kapitals( Maschinerie etc) hingewiesen. Der Entwicklungsstand des fixen Kapitalstocks galt ihm als wesentliche Voraussetzung für eine höhere Form der gesell-schaftlichen Produktion und Verteilung. Die technische Ent-wicklung ist aber immer auch in ihrem Verhältnis zur zahlungsfähigen Nachfrage zu betrachten. Im Gegensatz zum Finanzkapitalismus bedeutet das die Beseitigung der großen Ungleichheiten bei den Einkommen und Vermögen. Keynes muss insoweit widersprochen werden, als der Transformation der Eigentumsformen eine überragende Bedeutung zukommt. Es geht, im Gegensatz zum historischen Staatssozialismus,  darum, verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Eigentums zur Dominanz zu verhelfen, mit neu entwickeltem genossen-schaftlichem Eigentum als zentraler Eigentumsform. Ferner müssen Märkte und Preise als Allokationsinstrumente des Wirtschaftslebens für einen alternativen Entwicklungsweg genutzt werden. In einem derart gestalteten Marktsozialismus sind das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln, die Dispositionsgewalt über Unternehmen und die Steuerung makro-ökonomischer Größen so zusammenzusetzen, dass die Dominanz nichtkapitalistischer Produktionsverhältnisse gewährleistet ist. Das Ziel ist eine bestimmte Form der  Wirtschaftsdemokratie.